Mission completed - Sylvia Chybiak, Autorin und Fotografin aus Berlin

SYLVIA CHYBIAK
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Mission completed
 
Es knackte in Grieshabers Funkgerät, schon zum zweiten Mal an diesem Nachmittag meldete sich die Leitstelle. "Achtung, an alle Einheiten. Die totale Ausgangssperre wird voraussichtlich in den nächsten Stunden aufgehoben."
 
Das klang nicht gut, ganz und gar nicht gut.
 
Grieshaber saß auf der Schwelle der geöffneten Seitentür seines grauen Lieferwagens, eine matte Februarsonne kämpfte sich durch den Nebel zu seinem unrasierten Gesicht. Ohne sich umzusehen, griff er hinter sich und ertaste zwischen dem Müll aus leeren Kaffeebüchsen und zerknickten Styroporschachteln seinen Schlafsack. Ihm war plötzlich kalt, das erste Mal in diesem Winter. Nicht einmal die Weihnachtszeit hatten ihn frösteln lassen, als tagelang über der Stadt die unsagbar Stille Nacht lag. Aber jetzt schlich sich Angst in seine Eingeweide.
Ende der Ausgangssperre. Er würde abgezogen werden von seinem Posten.
 
Grieshaber griff unter den Beifahrersitz, zog die halbvolle Wodkaflasche hervor und nahm einen großen Schluck. Das Zeug war scharf,
er hustete.
Es knackte in der Leitung, abwechselnd zugeschaltet waren seine Kollegen, die mit ihm diesen Ring bildeten. Ihre Covid-Kohorte war eine zuverlässige Einheit aus Überwachern, ausgestattet mit Drohnen, Handys und Laptops. Sie spürten jeden auf, der sich während der totalen Ausgangssperre aus dem Haus wagte. Setzten Frauen und Männer in Haft, die noch immer noch meinten, provokant herumstolzieren zu müssen. Machten Jagd auf verhuschte Gestalten, die sich nachts aus ihren Häusern schlichen. Zwei Weihnachtsmänner und einen Engel
hatte Grieshaber am 24. Dezember verhaftet, nein, da halfen auch keine Tränen und keine Bestechungsversuche mit Geschenken.
 
Bei den Zugriffen wurde nicht ein Wort gesprochen, die maskierten Männer der Covid-Einheit blieben vollkommen stumm. Angesichts dieser Anonymität lagen die Nerven der Verhafteten blank, nicht selten musste Gewalt angewendet werden. Nicht schön, aber notwendig. Aber das hatten sich diese Demokratie-Idioten schließlich alles selbst zuzuschreiben. Bla, bla, Bürgerrechte. Hörten sie im April noch auf die gut gemeinten Bitten um Einhaltung von Auflagen, murrten sie im Mai schon. Lehnten sich massiv auf, trugen ihre Freiheit und das Virus munter in der Junisonne spazieren.  Vor allem die Jungen, die sich unbesiegbar wähnten und denen alles andere Wumme war. Im November war bei über 500.000 Toten im Land endlich Schluss mit Party. Alle Fraktionen im Parlament winkten den Beschluss durch, ab Dezember hart durchzugreifen. Längst überfällig, fand Grieshaber, und viel zu spät. Man holte ihn zurück in den Dienst. Aus seinem Pensionärs-Dasein,
das sowieso sinnloser nicht sein konnte. Endlich hatte er wieder Technik in den Händen und war Teil einer großen Mission. Im Übrigen konnte er nun auch ohne schlechtes Gewissen angetrunken durch die Gegend fahren. Wer wollte ihn stoppen? Nicht selten hatte er freiwillig Überstunden gemacht, das übermächtige Gefühl eines Kopfgeldjägers wog die miese Bezahlung allemal auf.
 
Ein Ende dieser glücklichen Zeit war eigentlich nicht abzusehen gewesen. Bis jetzt.
 
Grieshaber streckte die Beine aus, seine Kniegelenke knackten zuverlässig nacheinander. Der Schlafsack auf seinen Schultern roch muffig, seine Uniform nicht weniger abgestanden. Sie alle könnten eine Wäsche vertragen. Noch ein Schluck, half beim Nachdenken besser als Kaffee.
 
Der Ring hatte gehalten, seine Arbeit zäh und unnachgiebig erfüllt. Die Zahl der Infizierten und Toten war beständig gesunken, in den Fraktionen wurde in den letzten Tagen erbittert gestritten. Wirtschaft, Zukunft, Freiheit, Tote.
 
"Achtung, an alle Einheiten. Die Ausgangssperre wird in den nächsten 20 Minuten aufgehoben. Offizieller Befehl folgt. Bis dahin absolute Nachrichtensperre."
Unaufhörlich knackte es in der Leitung. +++ "Ey, Leute, ich fasse es nicht!" +++ "Bayern!" +++ "Union!" +++ "Schland ist gesund, jawoll!" +++ "Ab nach Hause zu den Kindern!" +++ "Endlich heiß duschen!" +++ "Hehe, aber nicht allein." +++ "Sollen die Drohnen jetzt runter?"+++ "Nein."
 
Es wurde still in der Leitung.
 
Grieshaber warf den Schlafsack ab, zog sein Laptop zu sich heran und startete das Übertragungsprogramm. Dann stand er auf und setzte die Drohne vorsichtig auf den Mittelstreifen der menschenleeren Allee. Die Lichter begannen zu blinken, ruhig steuerte er mit beiden Händen die zwei Hebel. Die Drohne hob ab. Noch zwanzig Minuten stand er im Dienst, niemand würde ihm Schlamperei nachsagen. Er stellte sich neben den Lieferwagen und beobachte den Laptopmonitor. Ruhig glitt seine Drohne die menschenleeren Straßen entlang, die Bilder waren gestochen scharf.
 
Plötzlich erfasste die Kamera eine junge Frau. Sie schlenderte durch eine schmale Seitenstraße, paffte eine Zigarette und blinzelte in die Sonne. Vor ihr senkte sich Grieshabers Drohne langsam ab. Das Mädel sah direkt in die Linse der winzigen Kamera, kaum 18 mochte sie sein. Trug keine Schutzmaske und grinste. Und lief einfach weiter. War die denn vollkommen verrückt geworden, ihr junges Leben einfach so wegzuwerfen? Riskierte kurz vor Schluss eine saftige Gefängnisstrafe. Nahe Freiheit ade. Grieshaber ließ die Drohne hinter ihr her fliegen. Das Mädchen ging um zwei Ecken und steuerte eine Sitzbank auf dem großen Bahnhofsplatz an.
Grieshaber holte seine Drohne zurück, knallte die Türen seines Lieferwagens zu und startete den Motor. Er würde sie retten vor der letzten Verhaftung, würde entgegen den Anordnungen sogar mit ihr sprechen. Sie überreden, nach Hause zu gehen. Ihr ein bisschen Mut machen.
Er raste um die Ecken, Gegenverkehr war sowieso nicht zu erwarten. Mit Vollgas fuhr er auf den Bahnhofsplatz zu. Kurz abbremsen, Bordstein hoch. Er stoppte direkt vor ihrer Bank, sprang aus dem Wagen und stellte sich breitbeinig vor sie hin. Bereit zuzugreifen,
falls sie flüchten wollte.
 
Sie wollte nicht. Schnippte die Zigarette weg und sah an ihm vorbei.
"Hören Sie, junge Dame, Sie dürften eigentlich gar nicht hier sein. Begleiten Sie mich bitte sofort zu meinem Wagen, ich bringe Sie zurück in Ihr Haus."
Sie reagierte nicht.
"Junge Dame? Sie haben mich verstanden?" Grieshaber nahm seine Schutzbrille ab. Sie sollte ihm wenigstens in die Augen sehen können. Eile war geboten, wenn die Drohnenkamera eines Kollegen sie erfasste, war sie kurz vor Schluss noch geliefert.
Grieshaber räusperte sich. Sollte er eine Andeutung machen, um sie zum Mitfahren zu bewegen? Er zog seinen grünen Mundschutz herunter.
 
"Ich bin nicht taub", sagte sie leise, stand auf und machte einen Schritt auf ihn zu. Sie kam ihm näher, als erlaubt war. Zarte Sommerspossen, helles Rosa ihr Mund. "Du bist ein Risiko für uns, alter Mann", zischte sie. "Kriegst sowieso das Virus. Da kannst du so viel saufen, wie du willst. Hilft dir nicht. Fieber, Lungenentzündung, zuletzt die Luftnot. Beatmung lohnt sich nicht, du stirbst sowieso. Stinkst ja jetzt schon.
Ich jedenfalls krepiere nicht. Also verzieh dich."
 
Grieshaber taumelte für einen kurzen Moment. Dieses kleine Miststück, alles an ihr war plötzlich hässlich. Sie wagte es, ihn zum Sterben zu verdammen? Sie und all die anderen halbwüchsigen Flitzpiepen, deretwegen sich das Virus so rasant ausgebreitet und vor allem die Alten dahingerafft hatte? Denen am Ende sogar die Großeltern egal waren?
 
Alles ging plötzlich ganz schnell. Maske hoch, Brille auf, Handschellen raus, kurzer Griff. Sollte sie doch jaulen, Grieshaber stopfte ihr einen Knebel in den Mund. Schleppte sie zu seinem Lieferwagen, riss die seitliche Tür auf und warf das Mädchen zwischen all seinen Müll der letzten Monate. Vor Anstrengung keuchte er.
Er hievte sich auf den Fahrersitz und nahm einen letzten Schluck aus der Wodkaflasche. Das Funkgerät knackte, Grieshaber drehte die Lautstärke hoch. "Achtung, an alle Einheiten. Drohneneinsatz beendet. Ich wiederhole, Einsatz beendet."
Grieshaber startete den Motor und fuhr langsam los, erst durch die engen Straßen, dann auf die breite Allee stadtauswärts. Menschen kamen aus den Häusern gelaufen und warfen ihre Masken in die Luft, lauter weiße Fähnchen. Das Virus hatte kapituliert.
Grieshaber kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter, als er auf die Autobahn fuhr. So warm war die Februarsonne eigentlich gar nicht. Er fasste sich an die Stirn. Warum war ihm plötzlich so heiß?
 
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